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7. Der Pastetenladen

 

Pastetenladen

Aus dem Schatten einer feuchten und übel riechenden Gasse sah Wolfsjunge, wie Septimus und Feuerspei über die Dächer hinwegglitten und in Richtung Sonne davonflogen. Er sah ihnen so lange nach, bis sie nur noch ein kleiner schwarzer Fleck am Himmel waren, oder vielleicht auch nur ein Staubkörnchen auf seiner Wimpernspitze – es war schwer zu sagen. Dann machte er sich, Tante Zeldas letzter Karte folgend, auf den Weg.

Wie Septimus war auch Wolfsjunge beflügelt von diesem neuen Gefühl der Freiheit und Verantwortung. Er war jetzt ganz auf sich gestellt, aber er war nicht allein, denn er wusste, dass Tante Zelda an ihn dachte und dass ihr die Aufgabe, die er zu erfüllen hatte, wichtig war – sehr wichtig. Er wusste nicht, warum. Es machte ihn einfach nur glücklich, dass sie ihm anvertraut worden war.

Wolfsjunge hatte viele Jahre im Wald gelebt und war es nicht gewohnt, so viele Menschen auf einmal zu sehen. Doch als er den Weg zum Hafen und zum Pastetenladen einschlug – auf den er sich schon seit Tagen freute –, war er ganz begeistert von den Straßen und dem bunten Menschengemisch, das an ihm vorbeiströmte. Hier war es genau wie im Wald, dachte er bei sich, nur eben mit Häusern anstelle von Bäumen und mit Menschen anstelle von Waldbewohnern – obwohl er fand, dass die Bewohner von Port viel merkwürdiger waren als alle Geschöpfe des Waldes. Als der schlaksige Junge mit den langen verfilzten Locken, dem schmutzigen braunen Kittel und dem federnden wolfsähnlichen Gang die kopfsteingepflasterten Straßen durchmaß, die sich zwischen verwahrlosten Lagerhäusern hindurchschlängelten, erregte er unter den Bewohnern und Besuchern der Stadt keinerlei Aufmerksamkeit. Und so mochte es Wolfsjunge.

Tante Zeldas Karte war gut. Bald gelangte er aus einem schmalen Durchgang zwischen zwei Lagerhäusern hinaus auf den windigen, sonnenbeschienenen alten Fischerhafen. Vor ihm im aufgewühlten Wasser schaukelten Schiffe unterschiedlichster Art, auf denen Fischer und Seeleute bei der Arbeit waren. Hier wurde eine Fracht gelöscht und auf wartende Karren umgeladen, dort ein Boot klargemacht, ehe es sich in die blaue Weite des Meeres hinauswagte, die sich bis zum Horizont erstreckte. Wolfsjunge fröstelte und schlang seinen braunen Wollumhang enger um sich. Für die Marschen oder den Wald war er jederzeit zu haben, aber die weite Leere der See machte ihm Angst.

Er nahm einen tiefen Atemzug. Er mochte den leicht salzigen Geruch der Luft, aber noch besser gefiel ihm der köstliche Duft nach frischen Pasteten, der ihm verriet, dass er hier richtig war. Sein Magen vermeldete ein lautes Knurren, und Wolfsjunge lenkte seine Schritte zum Pastetenladen.

Der Pastetenladen war leer. Es war kurz vor dem Mittagsansturm, und hinter der Theke war eine mollige junge Frau gerade dabei, ein Blech Pasteten aus dem Ofen zu holen. Wolfsjunge stand vor der größten Pastetenauswahl, die er in seinem ganzen Leben gesehen hatte, und versuchte sich zu entscheiden, welche er nehmen sollte. Am liebten hätte er alle probiert. Im Unterschied zu Septimus hatte er sich für Tante Zeldas eigenwillige Kochkünste nie erwärmen können, und so beschloss er, auf keinen Fall welche mit Kohlfüllung zu nehmen – was nur drei ausschloss. Schließlich kaufte er fünf verschiedene Pasteten.

Er wandte sich gerade zum Gehen, da flog die Ladentür auf und ein junger blonder Mann trat ein. Die junge Frau hinter der Theke schaute auf, und Wolfsjunge bemerkte, dass ein nervöser Ausdruck über ihr Gesicht huschte. »Simon«, sagte sie, »Glück gehabt?«

»Nein«, antwortete der junge Mann.

Wolfsjunge erstarrte. Erkannte diese Stimme. Verstohlen schielte er unter seinen verfilzten Locken hervor zu dem Neuankömmling. Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Das konnte doch unmöglich ... Doch, der junge Mann hatte eine Narbe über dem rechten Auge, genau an der Stelle, wo Wolfsjunge ihn mit seiner Steinschleuder getroffen hatte. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Es war ... es war Simon Heap.

Wolfsjunge wusste, dass Simon ihn nicht erkannt hatte. Simon hatte ihn kaum eines Blickes gewürdigt und unterhielt sich jetzt leise mit der Frau. Wolfsjunge überlegte. Sollte er sich hinausschleichen und das Risiko eingehen, dass Simon ihn bemerkte, oder sollte er noch bleiben und so tun, als wolle er noch etwas kaufen? Da die warmen Pasteten in seiner Tasche förmlich darum bettelten, gegessen zu werden, hätte er sich am liebsten davongemacht, bevor er erkannt wurde, aber etwas in Simons Stimme – eine Art Verzweiflung – hielt ihn davon ab.

»Ich kann sie nirgends finden, Maureen. Es ist, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.«

»Das ist unmöglich«, lautete Maureens vernünftige Antwort.

Simon, der von solchen Dingen mehr verstand, als Maureen ahnen konnte, war sich da nicht so sicher. »Es ist meine Schuld«, sagte er traurig. »Ich hätte sie zum Markt begleiten sollen.«

Maureen versuchte, ihn zu trösten. »Nicht doch, Simon, du darfst dir keine Vorwürfe machen. Lucy ist immer so schnell aufbrausend. Das wissen wir doch beide.« Sie lächelte. »Wahrscheinlich ist sie nur beleidigt abgezogen. Du wirst sehen. Als sie hier gearbeitet hat, war sie einmal eine ganze Woche weg.«

Aber Simon war nicht zu trösten. Er schüttelte den Kopf. »Aber sie war nicht beleidigt. Alles war in Ordnung. Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache, Maureen. Ach, wenn ich doch nur Spürnase hätte.«

»Wen? ... Ach du liebe Zeit, sie verbrennen!« Maureen sprang davon, um die nächste Ladung Pasteten zu retten.

Simon sah zu, wie sie mit einem Geschirrtuch den Rauch wegwedelte. »Ich will noch ein letztes Mal versuchen, ihre Spur zu finden, aber dann ist Schluss. Dann hilft nur noch Spürnase.«

»Wer oder was ist denn Spürnase? Ein neues Detektivbüro?«, fragte Maureen und inspizierte eine verkohlte Pastete mit Würstchen und Tomaten. »Das letzte hier in der Gegend ist niedergebrannt. Sah noch schlimmer aus als die Pasteten hier.«

»Nein, Spürnase ist mein Fährtenleserball«, sagte Simon. »Marcia Overstrand hat ihn gestohlen.«

Schockiert schaute Maureen von ihren Pasteten auf. »Die Außergewöhnliche Zauberin hat einen Ball gestohlen?«

»Nun ja ... nicht direkt gestohlen«, sagte Simon in dem Bemühen, seinem Vorsatz treu zu bleiben, immer die Wahrheit zu sagen. »Sie hat ihn wohl eher beschlagnahmt oder so. Aber Spürnase ist kein gewöhnlicher Ball, Maureen. Er ist ein Zauberball. Er kann Menschen aufspüren. Wenn ich Marcia dazu bringen kann, mir Spürnase zurückzugeben, kann ich ihn auf Lucys Fährte ansetzen. Ich bin mir sicher, dass er sie finden würde.«

Mit einem Seufzer des Bedauerns kippte Maureen den gesamten Inhalt des Blechs in den Mülleimer.

»Hör doch, Simon, mach dir keine allzu großen Gedanken. Lucy wird schon wieder auftauchen. Ganz bestimmt. Ich an deiner Stelle würde den ganzen Zauberkrimskrams vergessen und mich hier in der Gegend nach ihr umsehen. Du weißt ja, was man sagt – wenn man am alten Kai nur lange genug wartet, kommt irgendwann jeder vorbei, den man kennt. Es gibt Schlimmeres.«

»Ja ... vermutlich hast du recht«, grummelte Simon.

»Ganz bestimmt sogar«, sagte Maureen. »Wie wär’s, wenn du gleich damit anfängst? Nimm eine Pastete mit.«

Aus dem Augenwinkel beobachtete Wolfsjunge, wie sich Simon eine Pastete mit Schinken und Ei schnappte und dann den Laden verließ. Durch das beschlagene Schaufenster sah er, wie Simon langsam an der Hafenmauer entlangstrich und dabei gedankenversunken in seine Pastete biss. Simon hatte sich seit ihrer letzten Begegnung sehr verändert. Verschwunden waren der verschlagene, drohende Ausdruck in seinen Augen und der Hauch schwarzer Magie, der ihn umgeben hatte. Wäre ihm die Stimme nicht bekannt vorgekommen, so dachte Wolfsjunge bei sich, hätte er ihn wohl gar nicht wiedererkannt.

Wolfsjunge verließ den Laden und ging ein paar Stufen zum Wasser hinunter, wo er sicher sein konnte, dass er Simon nicht in die Arme lief. Er setzte sich, sah ein paar kleinen Krabben zu, die im nassen Sand wühlten, und aß, sich wiederholter Angriffe der berüchtigten Porter Möwen erwehrend, nacheinander eine Pastete mit Käse und Bohnen, eine mit Rindfleisch und Zwiebeln und eine besonders leckere mit Gemüse und Bratensoße. Anschließend verstaute er die restlichen zwei im Rucksack und zog die Karte zurate. Es wurde Zeit, sich wieder auf den Weg machen und das zu tun, weswegen er hergekommen war. Es wurde Zeit, dem Porter Hexenzirkel einen Besuch abzustatten.

Septimus Heap 05 - Syren
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